Newsletter Februar 2022
Liebe Susan, herzlichen Dank für deine Bereitschaft, dir für unsere Fragen Zeit zu nehmen.
Du bist Montessori-Pädagogin mit dänisch-deutschem Hintergrund, einem weiten Blick und dem Talent, in Teams zu denken. Vor ein paar Jahren hast du an die MOP, die Montessori Oberschule Potsdam gewechselt, eine renommierte Montessori-Schule. Regional könnte man fast – aus Berliner Sicht natürlich etwas anmaßend – sagen: Eure Schule liegt sowohl in Brandenburg als auch in Berlin.
Bitte erzähl doch unseren Leser:innen kurz, was dort dein Arbeitsbereich ist.
Ich bin vor sechs Jahren an die Montessori-Oberschule Potsdam gekommen. Seit vier Jahren leite ich hier die Primarstufe. Ich bin Ansprechpartnerin für die Kinder, Lehrerinnen und Eltern für alle erdenklichen Freuden, Sorgen und Nöte. Ich kümmere mich um Organisatorisches, Pädagogisches, um finanzielle Angelegenheiten, ich begleite Referendarinnen und neue Kolleginnen, führe die Anmeldegespräche für die künftigen Erstklässlerinnen, organisiere den Übergang vom Jahrgang 6 in die Sekundarstufe und begleite die vielen Hospitantinnen, die uns alljährlich aus nah und fern besuchen, um sich von uns inspirieren zu lassen. Ich organisiere interne Fortbildungen, z.B. zwei sehr spannende Workshops mit Helle Jensen zum Thema „Achtsamkeit“ und habe auch schon eine Kollegiumsreise nach Aarhus, Dänemark, geplant und durchgeführt. Ich gestalte das Schulleben gemeinsam im Team mit meinen Kolleginnen. Und nicht zuletzt unterrichte ich: Ich begleite die Freiarbeit in einer Lerngruppe und gebe Englischimpulse in der Grundschule. Und so vieles mehr….
Wenn man dich besucht, empfängst du einen vor der Schule und man bekommt gleich einen Tee. Das ist nicht selbstverständlich und sehr einladend.
Wozu ladet ihr eure Kinder ein und wie gewinnt ihr sie?
Wir laden die Kinder dazu ein, sie selbst zu sein, ihre eigenen Stärken und Interessen einzubringen und in ihrem ganz eigenen Tempo zu lernen. Sie sind eingeladen, ein wichtiger Teil unserer Schulgemeinschaft zu sein und sich bestmöglich individuell zu entwickeln. Wir gewinnen sie durch ein ausgewogenes Maß an individueller Freiheit, nährender Gemeinschaft, Freundlichkeit und einer wohl durchdachten vorbereiteten Umgebung, die je nach Alter der Kinder verschieden ist.
Ihr seid ein großes Team mit einem großen Erfahrungsschatz. Ich habe euch mehrfach besucht und mir dabei eure Räumlichkeiten genauer angeschaut, eure gestaltete vorbereitete Umgebung. Es ist schwer, ein Gebäude mit vielen Räumen und einer Menge Geschichte in ein paar Sätzen vorzustellen, aber bitte versuch es doch trotzdem: Was ist markant an eurer Raumgestaltung und dem Angebot, das ihr mit eurer vorbereiteten Umgebung macht?
Markant an unseren Räumen ist vieles, was sie NICHT haben. Wir haben keine Tafel, kein Smartboard, kein Lehrerpult, keinen festen Sitzplatz für die Kinder und weniger Sitzmöbel und Tische als Kinder in der Lerngruppe. So entsteht viel freier Raum. Die Kinder entscheiden situativ immer wieder neu, in welcher Haltung sie arbeiten möchten. Ob sitzend am Tisch, stehend, sitzend oder liegend auf einem Montessoriteppich oder auch draußen auf dem Flur. Die Kinder bewegen sich leise im Raum, finden sich in kleinen oder größeren Gruppen selbständig zusammen oder arbeiten allein, je nachdem, was sie brauchen. Durch den freien Raum entsteht Freiraum für die Kreativität der Kinder. Unser Motto ist „Weniger ist mehr“. Weniger Reize im Außen, damit das Innere der Kinder hervortreten kann. Das Montessori-Material ist auf Regalen entlang der Wände so angeordnet, dass es für die Kinder jederzeit frei zugänglich ist. In der Mitte des Raumes liegt ein großer runder Teppich, um den herum sich alle zum Gespräch oder zum gemeinsamen Frühstück auf dem Boden sitzend zusammenfinden. In der Mitte des Teppichs stehen frische Blumen in einer Vase. Der Wechsel von individuellem Arbeiten und dem Zusammenkommen im Kreis und in der Gemeinschaft ist mit dieser Gestaltung jederzeit ganz natürlich möglich.
Ihr habt vor eurer Schule einen riesigen Stein, in eurer Schule eine Schlange, ihr teilt euch in Lerndörfer auf und trefft euch für Veranstaltungen in eurem großen Foyer, das eine Art Kreuzung ist und ein wenig an ein Schiff erinnert. Was würden eure Schüler und Schülerinnen vielleicht noch über ihre Schule erzählen?
Da möchte ich die Kinder selbst zu Wort kommen lassen. Ich habe einige Schüler*innen aus jeder Jahrgangsstufe gefragt, was sie über ihre Schule noch erzählen würden. So antworteten sie, dass die Schildkröte Merlin im Kühlschrank unseres Hausmeisters überwintert und dass wir auch Hasen, Fische, Tauben, einen Leopardengecko und Ameisen haben. Dass sie es lieben, in unserer Bibliothek zu lesen, weil es dort gemütlich ist. Sie genießen es, so vieles selbst entscheiden zu können und auf unserem riesigen naturbelassenen Schulhof zu spielen und auf Bäume zu klettern. Sie schätzen es, dass sie in den jahrgangsgemischten Lerngruppen von und mit jüngeren und älteren Kindern lernen können. Die Jugendlichen fügten noch hinzu, dass die Jugendschule am Schlänitzsee in den Jahrgängen 7 und 8 ihnen eine große Nähe zur Natur ermöglicht und ihre Gemeinschaft stärkt. Ganz besonders schätzen sie auch die Möglichkeit, beim Tanz und dem fünfwöchigen Theaterspiel sowie in vielen Kunstprojekten kreativ zu sein. Einmalig ist es auch, dass sie an unserer staatlichen Schule in den ersten acht Schuljahren frei von Leistungsdruck lernen können, da wir erst ab der neunten Jahrgangsstufe Zensuren geben. So lernen sie, frei von Konkurrenz zu kooperieren.
Jede Schule hat viele Themen, die sie jonglieren muss. Im Augenblick jonglieren alle den Covid-Ball, aber mich würde interessieren, welche anderen interessanten Projekte und Schwerpunkte euch gerade in Bewegung halten.
Der Covid-Ball hält uns tatsächlich sehr in Atem. Uns ist es wichtig, dass wir friedlich miteinander umgehen, denn die Meinungen darüber, was sinnvolle Vorsichtsmaßnahmen sind und welche möglichen Auswirkungen sie auf die Kinder haben könnten, gehen, in unserer Elternschaft, wie ja auch gesamtgesellschaftlich, weit auseinander. Wir planen deshalb derzeit ein Elternforum zum Thema „Umgang mit Ängsten“. Wir fokussieren uns aber auch auf andere Themen, wie z.B. die Inklusion, die Neugestaltung unseres Foyers, die Einrichtung eines „Raums der Stille“ und wir überprüfen immer wieder unsere eigene Haltung in Bezug auf zeitgemäße Bildung und der Montessori-Pädagogik sowie auf das Spannungsfeld zwischen Führung und Partizipation.
Ihr gehört zu den ersten Schulen im nördlichen Teil Deutschlands, die an dem Modell „Neues Referendariat“ beteiligt sind – das wir in einem der nächsten Interviews noch detailliert vorstellen werden. Bitte skizziere für unsere Mitglieder, was diese neue, noch nicht staatlich anerkannte, aber sehr vielversprechende Art des Referendariats für eure Schule bedeutet.
Das Neue Referendariat ist eine spannende Alternative zum staatlichen Referendariat, weil es sich auf reformpädagogische und zukunftsweisende Inhalte konzentriert. Wir bilden derzeit eine „neue“ Referendarin aus. Im Grunde spiegelt ihre Ausbildung die Art wider, wie auch die Kinder an unserer Schule lernen – nämlich an selbst gewählten Schwerpunkten, sehr frei und ganz praxisorientiert, ohne Druck von außen. Wir arbeiten seit langem eng mit der Akademie Biberkor, die das Neue Referendariat anbietet, zusammen. Es finden beispielsweise Montessori-Ausbildungen in unserer Schule statt. Das Neue Referendariat ermöglicht einigen Kolleg*innen, mich eingeschlossen, sich als Dozent*innen oder Mentor*innen im Neuen Referendariat einzubringen. Indem wir unsere Haltung, Pädagogik und Projekte auch in diesem Rahmen weitergeben, können wir sie auch immer wieder für uns selbst festigen und reflektieren.
Liebe Susan, aus sicherer Quelle weiß ich, dass du nicht nur Mutter bist, sondern auch glückliche Großmutter eines kleinen Jungen in Norddeutschland, einen Katzensprung entfernt von der Grenze zu Dänemark, deiner zweiten Heimat. Was kann die deutsche Pädagogik und auch die deutsche Montessori-Pädagogik von der dänischen Schulkultur lernen?
Die meisten würden wahrscheinlich antworten, dass wir vor allem in Bezug auf die Digitalisierung viel von Dänemark lernen können. Ich persönlich wünsche mir für das deutsche Schulsystem, dass es sich traut, wie Dänemark in den ersten acht Schuljahren auf Zensuren zu verzichten und die Kinder zehn Jahre gemeinsam lernen zu lassen, ohne sie vorher zu selektieren. So geben die Dänen den Kindern und Jugendlichen viel Zeit, sich ohne Leistungsdruck zu entwickeln. Sympathisch finde ich auch, dass sich alle an dänischen Schulen untereinander duzen. Dies zeigt, dass Kinder und Erwachsene gleichwürdig sind. Auch das „Draußenlernen“, die sogenannte „udeskole“, machen uns die Dänen vor. Sie gehen ganz regelmäßig und häufig raus aus dem Klassenzimmer, rein ins wahre Leben, und lernen von und mit der Natur. Das wünsche ich mir auch für die Kinder an deutschen Schulen.
Ich bedanke mich herzlich für deine Antworten, liebe Susan.
Und noch eine letzte Frage: Welche Frage habe ich nicht gestellt, obwohl du sie gern gehört hättest? Und wie würdest du sie für uns beantworten?
Vielleicht die Frage danach, was ich mir für unsere Schule für die Zukunft wünsche? Ich wünsche mir, dass es uns gelingt, ressourcenschonender, resilienter und achtsamer mit unseren eigenen Kräften umzugehen, um ein hohes Maß an Entspannung und Wellbeing im Alltag zu erreichen. Davon können alle nur profitieren.
Ich hoffe auch sehr, dass es uns in noch größerem Umfang gelingt, andere zu ermutigen, unserem Beispiel zu folgen und Schule, auch im staatlichen System, neu zu denken und zeitgemäße Bildung umzusetzen.
Danke, Susan!
Interview: Gritje Zerndt