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Fragen an Jana Reiche, Landwegschule Baek

Interview Februar 2022, Newsletter April 2022

Montessoripädagogik im Vergleich zwischen Online- und Präsenzunterricht

Frau Reiche, was zeichnet für Sie Montessoripädagogik aus?

Für mich zeichnet sich Montessoripädagogik dadurch aus, dass sie eine Friedenspädagogik ist. Montessoripädagogik wird häufig reduziert auf eine Schulform, in der das Kind tun kann, was es will (was ja an sich keine Reduzierung sein sollte, denn Kinder wollen ja lernen). Dabei war eine Pädagogik vom Kinde ausgehend eine Revolutionierung aller bisherigen Erziehungsansätze und ist es im Grunde bis heute. Die Umgebung ist so vorbereitet zu halten, dass ein Kind sich individuell als Teil einer Gemeinschaft entfalten kann. Es kann in einer vertrauensvollen Umgebung seiner selbst sicher werden. Ich halte diesen Ansatz für einzigartig, weil er davon ausgeht, dass in einem vorbereitenden, respektvollen Umfeld heranwachsende Kinder langfristig eine friedvolle Gesellschaft gestalten. Entgegen der allgemeinen Annahme einer von Gemeinschaft und Normen losgelösten egozentrischen Entwicklung des Montessori – Individuums, beschreibt Montessori eine ganzheitliche Entwicklung, die Raum und Ansprache braucht und eben gerade nicht losgelöst von Gemeinschaft und deren Regeln oder einem Interesse an globalen Zusammenhängen funktionieren kann. Das Zusammenspiel von Freiheit und Disziplin hat Maria Montessori hinlänglich beschrieben. Es ist ja gerade in diesen Zeiten ein großer Trugschluss, dass Freiheit als ein individuell zu beanspruchendes Gut eingefordert wird und die eigene Verantwortung ausgespart wird.

Sind Sie auch derzeit als Lehrkraft tätig? Wie lange unterrichten Sie schon?

Ich bin Gründungsmitglied und seit 2001 Schulleiterin der Landwegschule, einer Montessorischule, deren Gründungskonzept aufgrund des BNE.- Schwerpunktes genehmigt wurde. Während einer freiberuflichen Tätigkeitsphase 2007 bereiste ich Europa, besuchte reformpädagogische Schulen, beriet Schulgründungsinitiativen und arbeitete an einer weiteren Montessorischule.

Haben Sie eine spezielle Ausbildung für die Montessoripädagogik?

Ich habe 2001 im Institut für ganzheitliches Lernen bei Claus – Dieter Kaul das Montessori – Diplom erworben, habe dann weiterführend kontinuierlich Weiterbildungsangebote zur Montessoripädagogik genutzt und 2020 einen weiteren Diplomlehrgang im montessori labor berlin bei Gritje Zerndt besucht, diesen mit einem Diplom abgeschlossen.

Welche Methoden und Materialien konnten Sie oder Ihre Lehrkräfte im Onlineformat weiter benutzen?

Die vorbereitete Umgebung war bedingt vorhanden, denn was uns im häuslichen Bereich fehlte, waren unsere Modelle der Wirklichkeit (also die konkreten Montessori-Materialien), zum Glück gab es viel „mathematisch verwertbare“ Wirklichkeit um uns herum. Das war eine gute Ausgangssituation. Die freie Wahl der Tätigkeit als Kernprinzip der Montessoripädagogik ist eine dienliche Voraussetzung für gelingenden Fernunterricht. In unserem Schulkonzept ist (im Gegensatz zu vielen anderen Montessorischulen) trotz der Freiarbeitsphasen ein Tagesinput in der Gruppe konzeptionell vorgesehen (didaktischen Prinzipien und einer Jahresplanung folgend). Kinder müssen nicht daran teilnehmen, wenn sie etwas anders vorhaben oder ein eigenes Vorhaben zu Ende bringen wollen. Da sie allerdings das Prinzip des „Kreises“ seit Klasse 1 kennen, nehmen in der Regel alle Kinder an dem täglichen Angebot teil. Gesagt sei auch, weil das sehr speziell an unserer Schule so ist und Auswirkungen auf den Mathematikunterricht hat, bei uns gibt es Epochen. Wir forschen vierteljährlich innerhalb eines Themengebietes, dafür dient uns der Montag. Durch den fächerübergreifenden Ansatz erstreckt sich das Thema auch auf alle anderen Tage und Fachbereiche. Wenn in der Epoche Erdkunde das Welterkundungsthema Griechenland oder Ägypten vorbereitet wird, wird das zum Beispiel in der Mathematik genutzt, um an den Grundbegriffen der Geometrie zu arbeiten, die Römer für die Römischen Zahlen und das Üben am Abakus. Die Woche ist also folgendermaßen strukturiert: Montag Welterkundung, Dienstag Englisch, Mittwoch Sprache, Donnerstag Mathematik, Freitag freies Forschen und Beendigung der Vorhaben, sowie Reflexionsrunde und Kinderversammlung. Die ästhetischen Angebote und Sport finden nach dem Mittagessen statt. So arbeiten wir seit 20 Jahren. Deshalb konnten wir diese vertraute Wochen- Struktur auch im Distanzlernen nutzen. Die aus dem Alltag bekannte Struktur hilft den Kindern bei der Strukturierung des häuslichen Übens, aber jedes Kind kann jederzeit im eigenen Tempo lernen und so intensiv, wie es das für dem eigenen Erkenntnisgewinn braucht. Die Aufgaben und Vorschläge für die Woche im den Lerngruppe 1- 4 wurden bis zum Montagmorgen in einem Padlet verschickt.

Wir gaben für die jeweiligen Lerngruppen einen Input am Anfang des Tages (in der Schule Kreis genannt) in der Videokonferenz, daraus folgten Übungsvorschlägen für den weiteren individuellen Tagesverlauf.  Wir hatten für die Konferenzen Präsentationen vorbereitet, zeigten Material oder schickten die Kinder in ihrem Zuhause mit einem konkreten Auftrag los (aktives handelndes Lernen in Bewegung), z.B.: Finde geometrische Körper in deiner Umgebung! und trugen die Ergebnisse direkt im Videoraum zusammen. Die Präsentationen der Lehrkraft waren jeweils an die Gruppe und aktuellen Voraussetzungen angepasst. Bei den Treffen ermöglichten wir je nach Altersstufe Arbeit in virtuellen Gruppenräumen (Partner- und Gruppenarbeit). Die Aufgabenformate für das weitere individuelle Üben waren möglichst offen (Freiarbeitsprinzip) und nah am Alltag gehalten. Es gab zusätzliche Übungsaufträge in einem Lehrwerk, dem VPM-Matherad. Die Übungen darin bilden zur Veranschaulichung unsere Montessorimaterialien ab. Zum Verständnis mathematischer Phänomene in der individuellen Übungszeit setzten wir Materialfilme ein:

https://www.youtube.com/@ReformpaedagogikMontessori

Für die älteren Jahrgangsstufen 5-6 vergaben wir Übungs- und Forschungsaufträge , das Transportmittel für die Aufgabenübertragung war die Brandenburger Schulcloud. Sie kannten also das Thema und das Ziel, z.B. das Dividieren von Dezimalbrüchen und bekamen Hinweise, wo sie sich Informationen zur Erarbeitung entnehmen konnten. Sie erarbeiteten sich das Thema also zunächst selbständig und bereiteten sich darauf vor, ihre Erkenntnisse vorzutragen. In der Cloud gab es auch die Möglichkeit, sich über Chaträume auszutauschen, wenn während des Arbeitsprozesses Fragen auftraten. Wir trafen uns erst mittags, um ihre Ergebnisse und Erkundungen zusammenzutragen, sie waren sozusagen der Ausgang für den Verlauf des Gesprächs im virtuellen Klassenraum. Die Lehrkraft ergänzte dann bestimmte Theorien oder weiterführende Fragestellungen. Dazu wurden auch klassisch Merksätze und Übungsbeispiele notiert, Übungsaufgaben ausgegeben.

Die eigenen Forschungsergebnisse konnten die Kinder in der Cloud oder dem Padlet hochladen (Präsentation von Schüler:in).Wir stellten die Arbeitsergebnisse, besonders die der Langzeitforschungen, zusätzlich wöchentlich auf der Website der Schule online: https://landweg.org/

Typisch für die Montessoripädagogik ist, dass es keine Noten gibt. Wir geben individuelle Rückmeldungen und halbjährliche Einschätzungen zu altersentsprechenden standardisieren Kompetenzstufen und persönlichen Lernentwicklungen- das war hilfreich für den Lernprozess im Distanzlernen.

Welche Methoden und Materialien konnten Sie oder Ihre Lehrkräfte NICHT benutzen? Welche Auswirkungen ergaben sich jeweils dadurch?

Darbietungen konnten wir nur sehr eingeschränkt durchführen.Während sich mathematische Phänomene noch per Kamera im Videoraum oder Film übertragen ließen, war das für Kosmische Erzählungen (die es auch für den mathematischen Bereich gibt) nicht möglich, da sie z.T. ja auch durch aktive handelnde Mitarbeit der Schüler:innen erzählt werden. Materialabläufe können gezeigt werden, in der Materialarbeit geht es aber auch um das Herausfinden, wie man zur Lösung gelangt, der Weg ist interessant. Klassische Materialarbeit war also nicht möglich. Die dem Material immanente Fehlerkontrolle ist wesentlich beim Üben, wir mussten also bei digitalen Alternativen sehr darauf achten, dass die Fehlerkontrolle möglich war und vor allem unsere typischen Farben übereinstimmten (Einer grün, Zehner blau …etc). Das war z.B. ein Problem bei der AntonApp, die ästhetisch und vom Aufbau zur Montessori-Pädagogik passen würde, die Farben in der Mathematik passten nicht. Grundsätzlich haben wir ohnehin so gut wie keine Apps oder Lernplattformen empfohlen, weil sie im Grunde ein schlechteres oder besseres Arbeitsblatt sind.Wir nutzen Arbeitsblätter äußerst selten bis gar nicht, in dieser besonderen Phase mussten wir sie zeitweilig einsetzen.Wir arbeiteten auch mit Übungsheften. Projektunterricht, forschendes Erarbeiten umweltlicher Phänomene war zwar möglich, allerdings nicht in der Altersmischung und Gruppenzusammensetzung, wie das an unserer Schule stattfindet. Wir haben darauf geachtet, mathematische Themen anzubieten, die im Haushalt zu finden waren, also z.B. Rauminhalt, Körper, Umrechnungen.

Konnten Sie oder Ihre Lehrkräfte die Heterogenität der SuS in der Onlinelehre berücksichtigen?

Da die Aufgabenangebote offen waren und es Zusatzangebote gab, konnten die leistungsstärkeren Schüler:innen sehr gut ihr Pensum festlegen, zumal die Klassen 5/6 ohnehin den jeweiligen Schwerpunkt selbständig erarbeiteten. Für die Kinder mit Förderschwerpunkt hatten wir spezifizierte Aufgabenformate und Padlets, abgestimmt auf deren individuelles Leistungsniveau. Die Treffen fanden in kleineren Gruppen statt, sie hatten ihre eigene Vorgehensweisen und nutzten individuelle Präsentationsformen, aber das gilt ja Im Prinzip für alle. Generell nutzten die Kinder die Treffen und Aufgabenformate, die ihrem Leistungsstand entsprachen, wie im Präsenzangebot auch. Es gab also z.B. 4. Klässler, die an den Angeboten der 6. Klasse in Mathematik teilnahmen, weil sie dem gewachsen waren oder eine Fünftklässlerin mit dem Förderschwerpunkt Lernen, die an den Treffen der Lerngruppe 3 teilnahm. Also ja!

Wie haben Sie oder Ihre Lehrkräfte die Mitarbeit der SuS erlebt im Vergleich zum Präsenzunterricht?

Zunächst ist sicher spannend, dass die komplette Schulgemeinschaft unserer Schule Videokonferenzen und die Aufgabenangebote nutzte. Es haben alle teilgenommen, weil alle sich sehen wollten, auch alle Zugänge hatten.Trotzdem war es nicht für jedes Kind einfach, manchmal spielte die Technik nicht mit, manchmal war das Kind zwar anwesend, aber von der Gesamtsituation sehr überfordert. In der Mitarbeit gab es die eine oder andere Überraschung. Einige Kinder liefen zur Höchstform auf und konnten die Zeit des individuellen Erarbeiten gut nutzen, präsentierten ihre Ergebnisse selbstbewusst und kreativ, für andere war das Sprechen im Videoraum oder auch das eigenständige Erarbeiten sehr schwierig. Manchmal war mehr Elternhilfe nötig, als wir dachten. Es gab auch Schüler:innen, die lagen während der Treffen auf der Couch oder redeten permanent, was in einer Videokoferenz störender ist als sonst, da mussten wir dann über Umgangsformen reden und Regeln vereinbaren. Durchschnittlich kann aber tatsächlich gesagt werden, dass die Mitarbeit, sagen wir mal eher die Anstrengungsbereitschaft und das Engagement, doch sehr ähnlich waren zu dem, was wir aus dem Präsenzunterricht kennen.

Haben sich die Kompetenzen der SuS in der Onlinelehre anders entwickelt als vorher?

Nun gut, wenn man die Medienkompetenz dazuzählen möchte, dann gab es sicher eine Erweiterung, vor allem für die Schüler*innen der Klassen 1-3. Da das eigenverantwortliche Lernen und Selbstorganisation Teil ihres Alltags ist, gab es ansonsten nicht so herausragende Erweiterungen, dass wir sie jetzt benennen könnten. Sie können sich ja auch in der Schule die Zeit nehmen, die sie brauchen oder eigene Zugänge nutzen. Digitale Technik war auch vorher schon in der Schule vorhanden. Die Kinder wollen möglichst nicht mehr im Distanzlernen sein, das haben eigentlich alle gesagt.

Im Nachgang stellten wir durch verschiedene Diagnoseverfahren fest, dass entgegen der Erarbeitungen in der Schule viele Übungsangebote sich nicht so nachhaltig verankert haben, wie das in der Schule der Fall ist.  Wenn wir uns in der Schule ein gemeinsames Thema, zum Beispiel Rauminhalt, erarbeiten und dann individuell dazu üben, können die Schüler:innen in der Regel langfristig darauf zurückgreifen.  Wir sind noch dabei, die Gründe zu ermitteln, aber neben der geringeren Konzentrationsspanne in Onlineformaten, scheint das Begreifen über das Ergreifen, das Anfassen, auch das spontane Handeln, ein echter Vorteil zu sein, den wir digital nicht ausgleichen konnten- trotz individueller Erarbeitungsangebote.

Fazit – Ist Montessori-Pädagogik online umsetzbar?

Für den Mathematikunterricht ist das nur mit Einschränkungen möglich, da der Erkenntnisgewinn aus der Materialarbeit gezogen wird.Wir können zwar per Film Beispiele und Abläufe verdeutlichen, aber nicht voll umfassend das eigenständige Erarbeiten ermöglichen. Kinder können ja auch nicht auf ein weiterführendes Material oder ein davorliegendes zurückgreifen. Und auch in der Montessoripädagogik geht es um das kontinuierliche Üben, das Vertiefen, bekannt als Polarisation der Aufmerksamkeit, auch das stellte sich nicht so selbstverständlich her. Alltagsmathematik ist natürlich ganz gut vermittel- und nutzbar.

Wenn man davon ausgeht, dass der Schwerpunkt der Montessori-Pädagogik vor allem auf der Arbeit an dem Miteinander und dem Erwerb von Schlüsselkompetenzen liegt, dann ein klares Ja. Es geht, warum auch nicht? Es ist nur schöner, wenn wir uns auch physisch sehen.  Wir haben uns vom ersten Tag des Distanzlernens getroffen, Zeit genommen, uns gegenseitig zu vergewissern, dass wir da sind, dass wir gemeinsam weiter forschen, dass wir uns hören und voneinander lernen wollen.  Wir haben neben den klassischen Lerninhalten vor allem das uns umgebende Umfeld genutzt. Den Ergebnissen haben wir eine Sichtbarkeit verschafft, die Schüler:innen erhielten immer eine Rückmeldung zu ihren Arbeitsergebnissen.  Wir haben vor allem den Zustand nicht ignoriert und „normal gespielt“, was die Erwachsenenwelt so gut beherrscht, sondern dieser besonderen Zeit Aufmerksamkeit gewidmet. Eine solidarische Gesellschaft ist möglich, wenn die Menschen ihre soziale Kompetenzen entwickeln und mit emotionaler Stabilität ausgestattet sind,. Das zu verhandeln, egal unter welchen Rahmenbedingungen, liegt u.a. in der Verantwortung der Schule.

Wir danken Jana und den vier Studierenden sehr herzlich dafür , dass uns das Interview zur Verfügung gestellt wurde!

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