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Fragen an Carolina Montessori

Newsletter November 2020

Carolina, hab herzlichen Dank dafür, dass du bereit bist, mir ein paar Fragen zu beantworten zu deinem neuen, dritten Buch.
Maria Montessori Writes to Her Grandchildren – Letters from India 1939-1946, bisher nur auf Englisch im Verlag Montessori Pierson Publishing Company erhältlich, könnte man als Familien-Projekt bezeichnen. Die vielen Briefe, die von dir eingeführt, übersetzt und editiert wurden, stammen zumeist von deiner Urgroßmutter, Maria Montessori, und hin und wieder können wir ein paar Zeilen von ihrem Sohn lesen, deinem Großvater Mario Montessori Senior. Die Briefe sind vor allem an Marios vier Kinder gerichtet, unter anderem an Mario Jr., deinen Vater, und an Marilena.
Letters from India wurde von deinem Cousin Alexander Henny veröffentlicht, Marilenas Sohn, dem Eigentümer des Verlags Montessori-Pierson Publishing Company. Alle deine Cousins und Cousinen haben das Manuskript gelesen.

Aber lass uns am Anfang beginnen.
Darf ich dich fragen, wie du ursprünglich auf die Idee zu diesem Buch kamst?

Lange bevor ich jemals dachte, dass ich mal ein Buch veröffentlichen würde, habe ich ein Fotoalbum gefunden, das meinem Vater gehört hat. Darin hatte er einige der Briefe und Fotos gesammelt, die Maria Montessori ihm und seinen Geschwistern während ihrer Reise nach Indien und bei ihrer Ankunft geschickt hatte. Die Briefe waren faszinierend: Die Reise selbst, eine Art „City Hopping“ von Amsterdam nach Madras, die Tatsache, dass Maria und Mario Montessori in Ländern wie Ägypten, Irak und Iran übernachteten, um Indien zu erreichen, das klang für mich so ungemein exotisch. Zudem waren das Dinge, von denen ich vermutete, dass sie niemand wusste.

Die Briefe in diesem Album reichten nicht aus für ein Buch, und ich begann, in dem Archiv meines Vaters zu suchen, ob es mehr gäbe. Marilenas Kinder gaben mir viele weitere Briefe, so dass ich irgendwann genug Material für ein Buch zusammen hatte.  Ich habe dann zuerst die anderen beiden Bücher vorbereitet, da jedes hundert Jahre nach dem Verfassen ihrer ursprünglichen Zeilen erscheinen sollte. Diese Arbeiten waren sehr nützlich als indirekte Vorbereitung für die Veröffentlichung der Letters from India, das – wie du zurecht sagst – ein viel größeres und komplexeres Buchprojekt wurde.

Dies ist die Geschichte einer Reise, die als dreimonatiger Besuch geplant wurde, um einen Diplomkurs zu geben und Vorträge in mehreren Instituten in ganz Indien zu halten. Doch dann entwickelte es sich zu einem sieben Jahre dauernden Abenteuer und einem kulturellen Weckruf für Maria und Mario. Als du die Briefe gelesen hast und viele Monate mit ihnen verbracht hast, was war es, das dich persönlich besonders fasziniert oder auch berührt hat, was war vielleicht selbst für dich neu, in den Texten oder auch zwischen den Zeilen?

Zuallererst Maria Montessoris Resilienz und Sinn für Abenteuer: Sie war 69, als sie in Indien ankam, zum ersten Mal konfrontiert mit einer ganz und gar anderen Kultur. Du musst bedenken, dass 69 damals eher so war wie 80 oder älter heute. Sie lebte mit Muslimen und Hindus und lernte, sich an ihren jeweiligen Lebensstil anzupassen. Tamil Nadu war zur damaligen Zeit eine Region, in der die Menschen zum Teil noch sehr ursprüngliche kulturelle Handlungen ausübten, und so fand sie sich zwischen Menschen, die ein Verhalten zeigten, das ganz anders war als alles, was sie bis dahin gewöhnt war. Aber sie ging sehr locker mit allem um.
Ich war tief berührt durch den Brief, in dem sie beschreibt, wie sie entdeckt, dass sie sich den Indern zugehörig fühlt und nicht Teil der europäischen Kolonie sein möchte, die es in Madras ebenfalls gab.

Und dann natürlich ihre Liebe für ihre Enkelkinder, ihre Sorgen um sie, als der Krieg sich in Europa ausbreitete. Sie war es gewöhnt, immer mal wieder für Phasen von ihnen getrennt zu sein, aber niemals für eine so lange Zeit. Sie war in das Leben ihrer Enkel intensiv eingebunden. Wir sehen hier eine ganz andere Maria Montessori als die, die wir aus ihren Büchern und Vorträgen kennen; in ihren Briefen an ihre Enkelkinder ist sie eine liebende Großmutter, die frei über alles schreibt, das sie sieht und unternimmt. Sie kann richtig witzig sein. Auch ihr phänomenales Talent zur Beobachtung. Wenn man ihre Briefe liest, hat man das Gefühl, neben ihr zu stehen.
Und letztlich auch ihre Art, mit schwierigen Situationen zurecht zu kommen. Statt gelähmt zu reagieren und sich von Sorgen und Traurigkeit überwältigen zu lassen, geht sie an die Arbeit, denn das ist ihr Weg, mit Stress umzugehen.

Wenn du versuchen würdest für uns zusammenzufassen, welchen Einfluss diese Jahre in Indien auf Maria und Mario und auf die Montessori Methode bzw. das „Montessori mindset“ gehabt haben – was würde dir einfallen?

Trotz der Sorgen um die Enkelkinder, trotz Marios Inhaftierung und der Tatsache, dass sie sich vier Jahre lang nicht frei bewegen durften, war die Zeit in Indien entscheidend für die Philosophie und die weitere Entwicklung der Methode.
Maria Montessori hatte nun vor allem Zeit zum Denken und zum Schreiben, ganz ohne das ständige Reisen, an das sie sich in Europa gewöhnt hatte. Ihre intensiven Kontakte mit so vielen verschiedenen Menschen hat die universelle Gültigkeit ihrer Vision untermauert: Kinder überall auf der Welt entwickeln sich – unabhängig von Religion, sozialer oder ethnischer Herkunft – entlang der selben Bahnen; sie bekommen etwa zur gleichen Zeit ihre ersten Zähne, sie lernen die Sprache, die mit ihnen gesprochen wird, die sensiblen Phasen finden zur gleichen Zeit statt. Kinder im Elementaralter sind Abenteurer und Forscher, Jugendliche müssen mit anderen Jugendlichen zusammen sein usw. Sie erforschte neugeborene Kinder und entwickelte die Erziehung im Kinderhaus und die Kosmische Erziehung gemeinsam mit Mario weiter. Die überwältigende Natur Indiens bot ihr genau die richtige Umgebung dafür. Sie hatte auch Hochachtung vor der Spiritualität der Inder und ihrer so anderen Sicht auf das Leben, weniger materialistisch als in Europa.

Beim Lesen des Buches bekommen wir einen sehr privaten Eindruck von Maria Montessori, mit noch tieferen privaten Einblicken als in deinen beiden letzten Büchern.
Als du das Buch geschrieben hast und dabei zutiefst private Briefe für die Öffentlichkeit editiert hast – welches Element dieses Kaleidoskop-artigen Bildes von Maria Montessori war am schwersten zu transportieren oder zu schützen?

Es war sehr schwierig, eine ausbalancierte Geschichte zu bauen; es gab ja viele Briefe, aber da sie etwa einen Monat unterwegs waren und es einen weiteren Monat brauchte für die Antwort, zumal die Briefe von der Zensur geöffnet und gelesen wurden, gab es unzählige Wiederholungen oder Pläne, die längst verworfen waren, als die Briefe ankamen. Es war also viel Aussieben nötig.

Diese Briefe wurden vor 80 Jahren geschrieben; so vieles muss heutigen Lesern und Leserinnen verdeutlicht werden, was ich versucht habe durch Fußnoten und zusätzliche Informationen und Kommentare zu tun, die ich zwischen die Briefe geschoben habe.

Es war tatsächlich viel Arbeit, die Balance zu finden, genug zu erklären, aber nicht zu viel. Manche Leser und Leserinnen nehmen vielleicht Anstoß daran, wie Montessori die armen Fischer beschreibt, die sie auf dem Gelände hinter ihrem Haus beobachtet, wie auch an ihrer Verwendung des Wortes „black“, wenn sie über Bedienstete schreibt. Einige rieten mir, diese Worte herauszunehmen, auch wegen der gegenwärtigen Black Lives Matter Proteste, aber ich habe das Meiste drin gelassen, denn es ist ein historisches Buch. So haben die Menschen damals gesprochen. Montessori war alles andere als eine Rassistin, sie hat früh Antropologie studiert und sie war sehr daran interessiert, wie Menschen lebten. Indien war so völlig neu für sie, und wir teilen hier ihr Staunen. Aus heutiger Sicht ist es aber etwas heikel.

Erklär doch bitte für alle, die noch nicht die Gelegenheit hatten, dieses erstaunliche Buch zu lesen, warum die Briefe vor allem aus den Jahren 1939 und 1940 stammen, und nur wenige aus den Folgejahren.

Als Maria und Mario nach Indien aufbrachen, hatten bis dahin nur Großbritannien – inklusive Australien, Neuseeland, und Britisch-Indien – und Frankreich nach der Invasion Polens Deutschland den Krieg erklärt. Obwohl Montessoris Briefe vom britischen Zensor gelesen wurden, war es leicht für sie, mit ihren Enkelkindern und anderen Freunden in Europa zu schreiben. Das änderte sich, als Deutschland am 10. Mai 1940 Holland besetzte. Nur wenige der Briefe, die von beiden Seiten geschrieben wurden, kamen an. Als Italien sich am 10. Juni 1940 an die Seite Deutschlands stellte, wurde die Korrespondenz noch schwieriger.
Nach 1940 kamen nur noch sehr wenige Briefe an, die von Freunden in Amerika weitergeleitet worden waren, aber nach dem Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941, als die Amerikaner ebenfalls als Alliierte in den Krieg eintraten, wurde jegliche Korrespondenz unmöglich. Erst 1945, als der Krieg zu Ende war, wurde es wieder möglich Briefe zu senden und zu erhalten.

Carolina, als letzte Frage möchte ich gern diese stellen:
Was war der Antrieb für das Buch, der dir Hoffnung und Kraft gegeben hat sowohl für die zahllosen Stunden der Übersetzungen und Forschung als auch für die Formulierungen und Neuformulierungen deiner eigenen Texte? Mit Projekten wie diesem findet man sich als Autorin-Herausgeberin-Familienmitglied in heraufordernden Situationen. Aber du hast nicht hingeschmissen, du hast es durchgezogen. Was hat dich am Laufen gehalten?

Was mich bei der Stange gehalten hat war, dass ich wusste, dies würde ein Buch über Maria Montessori werden, das vieles erklären würde über sie als Privatperson ebenso wie über die Indien-Jahre. Und dass viele Menschen Freude daran haben werden, es zu lesen, und sie das Gefühl haben werden, Maria Montessori als menschliches Wesen aus Fleisch und Blut kennengelernt zu haben, nicht nur als Genie auf einem hohen Podest. Es war und ist nicht meine Absicht, Maria Montessori auf irgendeine Weise zu diskreditieren, aber es ist mir ein Anliegen,  dass die Menschen sie als menschliches Wesen sehen, wie wir es alle sind, mit den gleichen Emotionen, die wir alle fühlen: Freude, Glück, Sorge, Angst, Einsamkeit, Liebe.
Und weil sie ein Mensch war und menschliche Gefühle verstanden hat, hat sie gesehen, wie wir alle strampeln auf dieser Welt, und sie wollte uns helfen, bessere, verantwortungsvolle, unabhängige Erwachsene zu werden, die in der Lage wären die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Hab sehr herzlichen Dank, Carolina!

Interview: Gritje Zerndt

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