Westermann Grundschule, Januar 2021
Maria Montessori hatte viele Berufe. Sie wurde zunächst Ärztin, studierte auch Anthropologie und Entwicklungspsychologie, schließlich Pädagogik. All diese sich ergänzenden Wissenschaften und Weltsichten hat sie kombiniert, um das zu tun, was ihr früh zur größten Aufgabe wurde: zu entschlüsseln, wie Kinder sich entwickeln, wie sie lernen, denken und wahrnehmen.
Als Ärztin wusste sie viel über Wachstum, Phasen großer Anfälligkeit für Krankheiten und über gesunde Entwicklung. Als Anthropologin konnte sie nicht übersehen, dass Kinder verschiedener Kulturen und Religionen im jeweiligen Entwicklungsalter Ähnlichkeiten aufwiesen. Als Entwicklungspsychologin wurde ihr bewusst, dass es im Leben jedes Kindes und Jugendlichen um die Persönlichkeitsentwicklung in Phasen und Stufen geht, beim Lernen, bei der Entwicklung eines freien Willens, auf der Suche nach persönlichem Glück. In jeder Entwicklungsstufe warten neue Aufgaben, die nur optimal bearbeitet werden können, wenn zuvor die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden – vom Kind selbst.
Und als Pädagogin setzte sie diese Teile zusammen und entwickelte ein Konzept, das es dem Kind und Jugendlichen in geschützten Umgebungen möglich machte, seine Aufgaben zu finden, zu bearbeiten, zu erfüllen, dabei seine Persönlichkeit zu entwickeln und – gehalten von stabilen Bindungen, Geborgenheit und Vertrauen – seine Unabhängigkeit von den Erwachsenen zu trainieren.
In der Montessori-Pädagogik kennen wir vier Entwicklungsstufen, die sich erstaunlich gut mit dem heutigen Schulsystem in mehreren Bundesländern decken.
0-6 Jahre
Das Neugeborene wird zunächst ein Säugling, ein Kleinkind und dabei zum Kind. Das passiert im Verlauf seiner ersten 6 Lebensjahre. Eine labile, formative Periode, in der das Kind sich selbst weitgehend erschafft – mit besonderem Fokus auf Sprachentwicklung, motorischer Entwicklung und Wahrnehmungsschulung, um seine Welt für sich zu ordnen. Im Vordergrund steht die Aktivität der Hände, das Selbermachen, die Eroberung der Gegenwart durch Aktivität: Phase „Hilf mir, es selbst zu tun!“
6-12 Jahre
Die nächsten sechs Jahre verbringt das Kind in der Grundschule. Mit dem Ende der Grundschulzeit beendet es auch seine Kindheit. In dieser Zeit erlebt das Kind einen enormen Wissenshunger, der gestillt werden will, denn die Fundamente dafür wurden schon gelegt, und jetzt ist das selbständige Wissenwollen und Denken dran: „Hilf mir, (es) selbst zu denken!“ Zur Gegenwart tritt die Beschäftigung mit der Vergangenheit.
12-18 Jahre
Es folgen 6 Jahre der Adoleszenz, in der die Jugendlichen von Kindern zu Erwachsenen werden. Das ist eine hochsensible Zeit, in der sie miteinander ihren Platz in der Gesellschaft suchen, in der sie krankheitsanfälliger sind und leicht zu verunsichern. Nachdem das individuelle Selber-Tun und Selber-Denken Zeit bekommen haben, dominiert jetzt der Wunsch nach Selbständigkeit innerhalb der peer-group: „Helft uns, es selbst zu tun, gemeinsam.“ Wieder verschiebt sich der zeitliche Fokus, die Zukunft wird in den Blick genommen, beunruhigend diffus, beruhigend vage. Und die Frage, die geklärt werden muss, ist eine philosophische: „Was darf ich hoffen?“
Die Sekundarstufe gibt einen Rahmen für die Suchbewegungen der Jugendlichen, ihre Gefühle, Versuche, Erfolge und Patzer – fehlerfreundlich, wohlwollend und liebevoll. Maria Montessori hat für diese Entwicklungsstufe die „Jugendschule des sozialen Lernens“ konzipiert, von ihr auch „Erdkinderplan“ genannt.
18-24 Jahre
Die letzten 6 Jahre schenkt Maria Montessori den jungen Erwachsenen dazu als eine weitere Reifungsphase. Als Ärztin wusste sie, dass der Körper mit 18 nicht ausgereift ist. Als Psychologin war ihr klar, dass Gehirn und Psyche noch in wichtigen Entwicklungsphasen steckten. Und als Pädagogin forderte sie eine Umgebung, die in dieser besonderen Zeit die neu gewonnene Stabilität noch unterstützen sollte.
Vielleicht könnte man für diese Jahre als Motto formulieren: „Hilf mir, meine Aufgaben und Rollen selbständig zu finden“. Oder, in der Sprache der Philosophie: „Was für ein Mensch möchte ich sein?“
Wenn man also die Grundschulzeit betrachtet mit der Brille der Montessori-Pädagogik, handelt es sich hier um ein „Dazwischen“ und man kann diese Zeit nicht betrachten ohne das „Davor“, die Zeit im Kinderhaus (so benannt nach Maria Montessoris erstem „Casa dei Bambini“), und das „Danach“, die Zeit in der Oberschule.
Um das zu tun, wollen wir kurz beschreiben, wie die drei Entwicklungsstufen in der Praxis aussehen können.
Das erste Lebensjahr verbringen die meisten „Montessori-Kinder“ zu Hause in ihrer Familie. Irgendwann zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr lernen die Meisten dann als weiteren wichtigen Ort das Kinderhaus kennen.
Kinderhaus, was bedeutet das? Im Kinderhaus der Landschule Baek …
Nach dem Kinderhaus, dem „Davor“, wechselt das Kind in die Grundschule. Verschiedene Autorinnen und Autoren haben in diesem Heft in mehreren Artikeln beschrieben, was diese Grundschulzeit ausmacht, wie sie aussehen kann, und die Leser*innen werden verstehen, dass man in Montessori-Grundschulen anders arbeiten kann, wenn die Kinder sich in einem Kinderhaus bereits mit wichtiger „Nahrung“ versorgen durften, wenn sie sich mit Schrift und Mathematik und ihrer engen und weiteren Umwelt auseinandersetzen durften. Es ist dann leicht zu verstehen, dass diese Kinder in den ersten drei Schuljahren im Tausender- und Millionenbereich rechnen, Wortarten bestimmen und alles erforschen möchten, was ihnen ins Gesichtsfeld und ins Bewusstsein kommt. Dafür können sie es sich zeitlich leisten, immer wieder bei Themen zu verweilen, die ihr intensives Interesse wecken und sie zutiefst begeistern.
Nach der Grundschulzeit machen alle Jugendlichen einen Wandel durch, der ihr ganzes Wesen betrifft. Die Veränderungen sind radikal und potentiell überfordernd für sie selbst. Körperliche, neurologische, hormonelle, psychische Veränderungen, die sich auf ihr Aussehen, ihren Schlaf, ihr Selbstbewusstsein, ihre Leistungsfähigkeit und vieles andere auswirken. Maria Montessori fordert mit dem „Erdkinderplan“ eine Entschulung für dieses Alter, einen ganz anderen, gleichzeitig geschützten und mutigen Weg, der zu größerer sozialer und ökonomischer Unabhängigkeit führt, (S. Lit.-Tipps S. …)
Peter Awe, Schulleiter der Montessori Schule in Wittenberge, beschreibt exemplarisch den Weg, den seine Schule geht:
„Jugendliche in der Pubertät wollen sich ausprobieren und vor allem miteinander kommunizieren. Sie suchen ihren Platz in der Gemeinschaft. An der Montessori-Oberschule in Wittenberge arbeiten wir in der Jahrgangsstufe 7/8 mit einem ganzheitlichen Curriculum. Die Jugendlichen forschen pro Schuljahr an 4 großen Themen und den Fragen, die sich für sie daraus ergeben. „Was bewirkt der Klimawandel? Wie bringe ich mich aktiv in die Gesellschaft ein? Welche Fertigkeiten und Fähigkeiten muss ich entwickeln, um später meine Stärken zu leben? Wie können wir unsere Zukunft nachhaltig gestalten?“ Maria Montessori beschrieb die notwendigen Bedingungen für die Jugendlichen im Erdkinderplan. Um unabhängiger zu werden, übernehmen die Mädchen und Jungen Verantwortung in einer vorbereiteten Umgebung, der Montessori Farm. Zur Umsetzung dieser grandiosen Idee braucht es einen außerschulischen Lernort. Unsere Schulgemeinschaft hat einen wunderbaren Platz im Biosphärenreservat „Untere Elbtalaue“ zur Realisierung dieses Traums gefunden, den wir in den nächsten Jahren gestalten werden. Der projektorientierte Unterricht bereitet die Gemeinschaft darauf vor. Die Jugendlichen haben in den vergangenen Jahren einen Bauwagen als Werkstatt ausgebaut, ein Hühnergehege an der Schule errichtet, eine mobile Bühne für unsere Konzerte gezimmert und Holzmöbel für den öffentlichen Raum gebaut. Die geschaffenen Bedingungen verbinden die Jugendlichen, sie nutzen ihre Stärken in der Umsetzung und stützen die Gemeinschaft.
In den Jahrgangsstufen 9 und 10 erproben sich die Jugendlichen in Praktika und bereiten sich auf den mittleren Schulabschluss vor, um danach einen Beruf zu erlernen oder das Abitur abzulegen.“
In Deutschland gibt es eine Vielzahl von Montessori-Sekundarstufen, mit und ohne „Erdkinderplan“. Die Grundschulen bereiten diese Jahre des intensiven Zusammenlernens und Zusammenlebens der Jugendlichen vor. Aus Grundschul-Sicht sind dies die Jahre des „Danach“: eine aufregende, intensiv vorbereitete und doch ganz neue Zeit, in der sich plötzliche Labilität zu Kreativität, große Empfindsamkeit zu gegenseitiger Achtsamkeit und altersgemäße Orientierungslosigkeit zu Sinnfindung und Unternehmergeist entwickeln dürfen.
Daniel Reiche, Peter Awe, Gritje Zerndt