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Der Entwicklung Raum geben

„Westermann Grundschule“, Januar 2021

Jedes Kind wird in einem Raum geboren, dem kleinsten, den es jemals bewohnen und beleben wird. Aber was für ein magischer, sicherer Ort, dessen Wände mitwachsen nach den Bedürfnissen des Kindes. Bis es nicht mehr reicht. Der alles enthält, was das Kind braucht, bis das nicht mehr stimmt. Und der von der Person zur Verfügung gestellt wird, die die absolute Bindung gewährleistet und gleichzeitig die größtmögliche Unabhängigkeit von ihr schon vorbereitet, weil das der Lauf der Dinge sein muss.

Der erste Ortswechsel kommt in Form der Geburt, weil er Sinn macht. So kann es nicht weiter gehen, nicht hier, nicht so, nicht länger in dieser absoluten Abhängigkeit. Das Kind ist ausgestattet mit ganz anderen Möglichkeiten, die nur in Innen- und Außenräumen Sinn machen, in denen man Auswahl hat und echte Lernchancen, in denen einladende Dinge warten und andere Menschen.

Montessori-Pädagog*innen lernen, mit der Umgebung zu arbeiten, damit die Umgebung für das Kind arbeitet. Und damit das erfolgreich geschehen kann und Kinder sowohl gelungene Bindung als auch zu ihrer Selbständigkeit und ihrem Persönlichkeitsaufbau beitragende Bildung erfahren können, bereiten sie diese Umgebung vor. So wird daraus die „vorbereitete Umgebung“.

Nach Montessori ist die vorbereitete Umgebung ein Lern- und Lebenslabor. Sie ist ein Ort, der sich auf Kinder einstellt, der zu ihren Proportionen und Bedürfnissen passt, Vertrautes ebenso enthält wie Neues, Angebote macht und zu einer Aktivität verführt, die sie „Arbeit“ nennt, letztlich Entwicklungsarbeit. Die Arbeit, die manchmal ernsthaft und herausfordern sein kann und manchmal leichter fällt, sucht sich das Kind im Idealfall selbst, also muss jemand im Sinne des Kindes vorgedacht haben, damit vorhanden ist, was Bedeutung bekommen könnte. Wenn das Kind einverstanden sein kann mit dem, was es vorfindet und tut, wird ein verblüffender Vorgang in Gang gesetzt, den wir Konzentration nennen, der mit Anstrengungsbereitschaft einhergeht und der etwas auslöst, dem wir die Bezeichnung Lernen gegeben haben. Ein Lernen, das in größtmöglicher und sozialverträglichen Freiheit erfolgt und einhergeht mit großer Zufriedenheit. Diese Zufriedenheit löst wiederum weitere Prozesse aus. Lust auf mehr, kreativen Ehrgeiz also, innere Selbstdisziplin, soziales Verhalten. Damit das passieren kann, damit die Gelegenheit dafür entsteht und dann nicht ungenutzt verpufft, braucht es jemanden, der den für Kinder bedeutungsvollen Themen und Aktivitäten Raum gibt.

Der gestaltete Ort, die „vorbereitete Umgebung“, ist ganz auf das Kind abgestimmt, auf eine ganze Zahl von Kindern sogar, und doch ist er zusätzlich ein wirkungsvolles Werkzeug auch für die Erwachsenen, die das Kind begleiten. Denn die Umgebung übernimmt überraschend effektiv große Teile der Aufgaben, für die Pädagog*innen meist als unentbehrlich gelten. Der Raum und die Materialien, die er enthält, sind neutrale, geduldig zur Verfügung stehende Lehrmeister und Lehrmeisterinnen für das Kind – und das gilt durchaus auch für Außenräume wie den Garten mit den dort befindlichen Geräten und Werkzeugen oder den Wald, der mit Bollerwagen und Rucksäcken erforscht wird. Kurz gesagt: Wenn ich als Montessori-Pädagogin weiß, wie ich die Umgebung gestalten kann, habe ich zwar im Vorfeld zu tun, um eine Lernlandschaft zu bauen, die ausbalancierte Reize enthält, kann mich dann aber auf das Wesentliche konzentrieren, wenn die Kinder kommen. Meine Aufgaben verschieben sich. Ich werde mal zur Beobachterin, mal zur Beraterin, zur Impulsgeberin, zur Animateurin und oft zur Bewunderin der Kinder und ihrer Talente.

Was Maria Montessori zunächst überraschte: Die vorbereitete Umgebung wirkt gerade auch auf die Kinder, die Hilfe dringend nötig haben, die „schwierigen“ Kinder. Denn hier wird nicht belehrt. Hier werden sie auch nicht von Erwachsenen auf ihre Fehler aufmerksam gemacht, zumindest nicht ungefragt. Hier ist alles so organisiert, dass die Umgebung die Rückkopplung gibt, der Raum, das gut ausgewählte und passende Material und die anderen Kinder – und ja, manchmal auch die Pädagog*nnen.

Wie richtet man nun aber einem Montessori-Raum ein? Welche Prinzipien gibt es, und wie strukturiert man Möbel und Materialien?
Maria Montessori wünscht sich die Räume hell, was nicht heißt, dass alle Wände weiß sein müssen. Sie wünscht sie sich groß, was nicht immer zu machen ist. Die Tische und Stühle sollen nach den Proportionen der Kinder angefertigt sein. Das bedeutet, dass nicht alle Stühle gleich sein können, denn es sind ja nicht alle Kinderrücken oder Kinderbeine gleich lang. Dabei müssen die Kinder nicht ständig auf Stühlen sitzen. Maria Montessori war Ärztin, sie wusste um die gesundheitsfördernde Wirkung der Bewegung und um die Schädlichkeit des langen Sitzens.


In Montessori-Räumen soll man sich bewegen können, jeder Zeit, ohne Lärm machen zu müssen, wenn man das gar nicht wollte. Man kann man hier auf vielfältige Weise arbeiten. Im Gehen, im Stehen, im Sitzen auf Stühlen, Hockern oder anderem, im Sitzen auf den Boden. Also braucht es Arbeitsteppiche. Ein kleiner, runder oder auch eckiger Arbeitsteppich hat mehrere Funktionen, die alle mit dieser Pädagogik der Achtsamkeit und der Selbständigkeit zu tun haben.

Zunächst eignet sich ein Teppich oft besser als Arbeitsfläche als ein Tisch, schon weil Materialien nicht wegrollen können oder der Blick auf das Material von oben Sinn macht.

Er dämpft die Geräusche, die entstehen, wenn Material abgestellt, aufgebaut, montiert oder demontiert wird. Er hilft beim Fokussieren. Das Kind muss seine Konzentration nur ein Stück weit in den Raum schicken, gerade bis zur Kante des gern monochrom farbenfrohen Teppichs, der wie der Spot einer Taschenlampe seine Aufmerksamkeit bündelt. Wenn ein Teppich ausgerollt liegt, bereits mit Material belegt oder gerade noch leer wird kein Montessori-Kind darüber laufen, ebenso wenig wie über Tische (oder Bänke). Ein Teppich signalisiert: Hier arbeitet jemand, bitte einen respektvollen Bogen machen. Und er verkündet: Dieser Platz im Raum ist belegt.

Für die das Lernen begleitenden Pädagog*innen ist der liegende Teppich eine Hilfe bei Beobachtung und Diagnose. Wählt ein Kind einen Teppich, entscheidet sich für Größe, Farbe und den Ort, an dem er liegen soll, stehen die Chancen gut, dass da schon ein Plan im Kopf des Kindes ist, mit welchem Material es gleich experimentieren will. Als Lernbegleiter*in braucht man also jetzt nicht einschreiten, Impulse geben oder ein Gespräch beginnen, denn das würde vermutlich eher stören. Der Prozess hat schon begonnen.

Bei der Menge von Materialien, die thematisch geordnet bereit gehalten und mit hoher Wahrscheinlichkeit in Regalen einladend angeboten werden, entsteht leicht eine reizüberflutende Fülle und, sagen wir, wie es ist, eine gewisse Wurschteligkeit. Um dem zu entgehen, gibt es optische Spielregeln, die helfen, den Raum zu organisieren. Dazu gehören eine Balance aus Reizen und Leerstellen, z.B. ein paar Quadratmetern freier Wand. Dazu gehören auch gleichhohe Regale, auf denen nicht ungeordnet und vermeintlich unsichtbar alte Globen verstauben, vertrocknete Pflanzen stehen oder zusammengerollte Plakate liegen.

Es hilft auch, wenn die unvermeidbare Materialfülle optisch dadurch strukturiert wird, dass es eine dominante Farbe gibt, die sich wie ein Thema durch den Raum zieht. Diese Aufgabe können auch kleine Lampen oder Spots übernehmen, die unsere Augen dahin lenken, wo sie Ruhe finden und Struktur, vielleicht sogar Schönheit.

Man könnte die Montessori-Pädagogik der Grundschulzeit als Lernen durch Stöbern nach Neuem in schönster, gestalteter Vertrautheit bezeichnen.

Gritje Zerndt

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